Genug Zeit durch mehr Tempo?

Workshop: Die zunehmende Beschleunigung führt oft zu Überlastung. Resonanz-Beziehungen können einen Ausweg bieten.

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10 April 2023
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Leben

Zusammenfassung aus: Workshop der StopArmut Konferenz am 25. März 2023 in Aarau
Autor und Workshopleiter: Philipp Wenk (IGW)


Genug Zeit durch mehr Tempo

«Ich muss nur noch schnell…» – kennst du auch solche Standardsätze? Ich selbst nutze diese Formulierung sehr oft.  Kennst du auch das damit verbundene Gefühl, zu wenig Zeit zu haben – getrieben zu sein von all den Aufgaben auf deiner To-Do-Liste? Falls ja, bist du definitiv nicht allein. Es ist ein Markenzeichen unserer gesamten Gesellschaft.

In unserem Workshop haben wir entdeckt, dass die zunehmende Beschleunigung des Lebens in der Geschichte schon ziemlich weit zurückreicht und sich deshalb in fast alle Bereiche des Lebens einnisten konnte. Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, empfehle ich dir das Büchlein von Marianne Gronemeyer mit dem Titel «Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit». Wichtige Motoren dieser Beschleunigung sind zum einen unser Lebenshunger und zum andern der Wettbewerb, in dem wir konstant bestehen müssen: Wir möchten das Leben auskosten, die vielen Möglichkeiten, die wir haben, nutzen, tiefe Erfahrungen machen, Neuland entdecken… Und wir müssen uns im Alltag immer wieder bewähren: Auf der Arbeit müssen wir konstant effizienter werden. Und in den sozialen Medien müssen unsere Posts immer ausgeklügelter werden, um weiterhin attraktiv zu wirken…

Obwohl beide Motoren an sich nicht unbedingt negativ sind, können sie problematische Auswirkungen haben: Wie oft versuchen wir, unseren Lebenshunger dadurch zu stillen, dass wir mehr Erfahrungen in weniger Zeit zu machen suchen? Im ersten Moment erscheint diese Lösung logisch. Doch Fast-Food-Erfahrungen können nur oberflächlich sein. Deshalb sättigen sie nicht und der Motor läuft sich heiss. Das sehen wir z.B. an unserem Konsum von sozialen Medien und Streamingangeboten, der immer grösser wird.

Auch der Wettbewerb an sich ist nicht nur negativ. Doch bei wie vielen Menschen ist er zum Sklaventreiber geworden? Wie viele wachen in der Nacht auf und ihr Kopf beginnt, um die anstehenden Aufgaben zu kreisen? Wie viele scheiden erzwungenermassen ganz aus dem Wettbewerb aus, weil ihr Körper die Notbremse zieht? Beide Motoren können an die Wand fahren.

Deshalb lohnt es sich, einen Moment innezuhalten und nachzudenken. Dabei kann uns Hartmut Rosa als anregender Gesprächspartner dienen. Er hat sich auch mit den kritischen Folgen der Temposteigerung befasst. Dabei hat er sich gefragt, welche Art von Beziehung unseren Beschleunigungsmotoren zugrunde liegt. Und im Folgeschritt entwickelte er eine andere Art, wie wir mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen, der nicht-menschlichen Schöpfung und letztlich auch mit Gott in Beziehung sein können, um nicht in die Beschleunigungsfalle zu tappen. Bildhaft nennt er sie «Resonanz». Sie kann in vier Punkten zusammengefasst werden:

(1) Resonanz entsteht dadurch, dass jemand oder etwas mich plötzlich persönlich angeht, mich anspricht, mir um seiner selbst willen wichtig wird. Das kann ein Sonnenuntergang sein, der mehr und etwas anderes ist als einfach durch Lichtbrechung entstandenes Rot am Abendhimmel. Das kann eine Person sein, die nicht einfach nur ein Punkt auf meiner ToDo-Liste ist, für den ich so und so viel Zeit eingeplant habe. Das kann ein Moment im Gebet sein, in dem ich nicht nur einfach meine Bitten vortrage, sondern erlebe, wie Gott gegenwärtig ist.
(2) Entsprechend ist mein Handeln in einer Resonanzbeziehung immer als Antwort zu verstehen. Ich reagiere auf die Anrede des anderen. Resonanz hat also nichts mit Passivität zu tun. Es geht nicht darum, einfach mal Pause zu machen. Auch in dieser Beziehungsform bin ich aktiv, erzeuge Wirkung. Aber das Handeln findet in einer gegenseitigen Beziehung statt, in der das Gegenüber um seiner selbst willen wichtig ist.
(3) Das bedeutet, dass durch eine Resonanzbeziehung beide Seiten verändert werden.

(4) Und schliesslich zeichnet sich eine Resonanzbeziehung dadurch aus, dass sie unverfügbar ist. Wir können den Sonnenuntergang fotografieren, damit wir ihn später nochmals anschauen können, wenn wir mehr Zeit dafür haben. Wir können den Kunden möglichst fair und gerecht beraten. Wir können vor Gott alle unsere Anliegen äussern. Aber dass der Sonnenuntergang plötzlich zur Anrede wird, dass mein Kunde plötzlich auf einer tieferen Ebene zu mir spricht, dass Gottes Gegenwart plötzlich erfahrbar wird, das ist nicht verfügbar. Das können wir nicht erzwingen. Und genauso wenig können wir im Voraus bestimmen, wohin diese Begegnung uns führt. Resonanz ist unverfügbar.

Eine solche Beziehung antwortet auf unseren Lebenshunger und kann zumindest diesen Beschleunigungsmotor bremsen.

Drei Fragen für deine persönliche Reflexion:

  • Wie können wir Hindernisse für Resonanzerfahrungen abbauen?
  • Wie können wir ein Umfeld gestalten, in dem Resonanzerfahrungen – trotz letztlicher Unverfügbarkeit – wahrscheinlicher sind?
  • Was hat unser Glaube damit zu tun?
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